Ein großer Schritt Richtung Werkzeugbau 4.0

Eines mag man im hochentwickelten Werkzeugbau des Audi Kompetenzcenter Anlagen-/ Umformtechnik nicht: Prozesse, die der digitalen Vernetzung entgegenstehen. Deshalb ersetzt jetzt ein Roboterbearbeitungszentrum vier Radialbohrwerke beim Bau von Umformwerkzeugen. Ein anspruchsvolles Projekt, mit dem sich entscheidende Vorteile realisieren lassen.

Bildquelle Audi: TX200 on a traverse axis (Audi)

Bildquelle Audi: TX200 on a traverse axis (Audi)

Bereits 2015, als Audi einmal mehr die Auszeichnung Werkzeugbau des Jahres erhielt, hob die Jury die herausragende Entwicklung und die teilweise Realisierung einer durchgängigen digitalen Prozesskette hervor. Ziemlich genau ein Jahr später vollzieht Audi einen weiteren entscheidenden Schritt auf dem Weg zum Werkzeugbau 4.0. Die Ingolstädter ersetzen manuell zu bedienende Radialbohrwerke durch eine komplett in den Fertigungsprozess integrierte Roboter-Innovationsanlage.

Worum es dabei geht, erläutert Gereon Heidrich, Leiter Maschinentechnik im Kompetenzcenter: „Für das Einbringen der Entlüftungsbohrungen in Umformwerkzeuge kamen bislang Radialbohrwerke zum Einsatz. Die Nachteile dabei: Das Verfahren ist mit den vorhandenen Maschinen nicht automatisierbar, zeitintensiv und mit hohem Personalaufwand verbunden. Und: Es passt nicht zum Konzept Werkzeugbau 4.0, bei dem die digitale Vernetzung aller Prozessschritte Programm ist.“

Nach eingehender Analyse aller möglichen Bearbeitungsalternativen entschied man sich bei Audi für ein wegweisendes Lösungskonzept. Künftig sollte ein Industrieroboter die Tieflochbohrungen und im späteren Projektverlauf auch Passbohrungen und

Gewindeschneidprozesse an den Umformwerkzeugen ausführen. An der Realisierung des zukunftsweisenden Projektes hatten die Audi-Verantwortlichen keine Zweifel: „Wir verfügen bereits seit 2011 über positive Erfahrungen mit einer eigenentwickelten Robotiklösung bei der Bearbeitung von Entlüftungsbohrungen in Graugusswerkzeugen. Das hat uns von der Machbarkeit unserer Idee überzeugt“, so Juliane Kollecker, Projektleiterin, Abteilung Neue Geschäftsfelder Automatisierungstechnik im Kompetenzcenter.

Allerdings teilten die angefragten Anlagenbauer diese Ansicht nicht. Die Anforderungen seien für die Roboterbearbeitung zu anspruchsvoll und würden zu viele Unwägbarkeiten beinhalten, hieß es. Letztendlich fand sich mit der robot-machining GmbH aus Seligenstadt ein erfahrener Anlagenbauer, der sich die Erprobung und anschließend die Realisierung der Aufgabenstellung zutraute. Das Unternehmen hat sich auf Entwicklung, Konstruktion und Produktion schlüsselfertiger Roboter-Bearbeitungszentren spezialisiert und erstellte in enger Zusammenarbeit mit dem Kompetenzcenter ein Anlagenkonzept samt Prozesstechnologie, Spannvorrichtung sowie Bearbeitungstechnik. Der Vorschlag fand die Zustimmung der Audi-Verantwortlichen und aus der Vision wurde Realität. Seit dem vierten Quartal 2016 ist die Anlage vollständig in die Produktion integriert.

 

Know-how intensive Innovationsanlage

Wie viel Know-how in dem Roboterbearbeitungszentrum steckt, zeigt sich beim Vor-Ort-Termin in Ingolstadt. Auf dem rund acht Meter langen und sieben Meter breiten Roboterbearbeitungszentrum lassen sich Umformwerkzeuge aus Stahl- oder Grauguss bearbeiten. Die Werkzeugabmessungen können bis zu 4500 x 2500 x 1000 mm bei einem Gewicht von bis zu 20.000 kg betragen. Das Einbringen der tonnenschweren Werkzeuge in die Zelle ist elegant gelöst. Der An- und Abtransport erfolgt über das Dach der Sicherheitseinhausung, das sich auf Knopfdruck öffnen lässt.

Herr in der Zelle ist ein präziser Roboter von Stäubli, der über eine 37 kW starke Bearbeitungsspindel verfügt, deren Drehzahl bei maximal 16.000 Umdrehungen liegt. Der große Sechsachser vom Typ TX200 verfügt über eine Tragkraft von nominal 100 kg bei einer Reichweite von 2.194 mm. Ein beachtlicher Wert, der aber dennoch nicht ausreicht, um alle Bearbeitungspositionen anfahren zu können, weshalb der Roboter auf einer Verfahrachse positioniert wurde.

Warum gerade dieser Roboter zum Einsatz kommt, bringt Bernd Luckas, Vertriebs-Ingenieur bei robot-maching auf den Punkt: „Mit dem Stäubli TX200 konnten wir in der Prozesserprobung auf Anhieb die geforderte Präzision erreichen. Wir wählten auch ganz bewusst nicht den TX200L mit Armverlängerung, sondern den TX200, weil dieser mit einer Wiederholgenauigkeit von +- 0,06 Millimeter noch präziser und steifer ist. Deshalb nahmen wir den Nachteil der geringeren Reichweite in Kauf.“ Ein Umstand, der bei der Bearbeitung besonders großer Presswerkzeuge deren Umorientierung erforderlich macht, da der Roboter selbst über die Verfahrachse nicht alle Bearbeitungspositionen erreichen kann.

Was heute im Falle einer Werkzeugumorientierung mit Neuvermessung die Durchlaufzeiten erhöht, könnte sich morgen schon ins Gegenteil verkehren. Im Anlagenlayout ist bereits der Einsatz eines zweiten Stäubli TX200 innerhalb des Roboterbearbeitungszentrums vorgesehen. Dieser Roboter soll auf der gegenüberliegenden Seite von Roboter 1 ebenfalls auf einer Verfahrschiene montiert zum Einsatz kommen. Damit lässt sich jedes Werkzeug in einer Aufspannung komplett bearbeiten und die Durchlaufzeiten verkürzen sich abermals signifikant. Die Entscheidung, ob und wann der zweite Roboter zum Einsatz kommt, macht Gereon Heidrich an Zahlen fest: „Hier entscheidet die Wirtschaftlichkeit und die hängt von der Auslastung unseres Roboterbearbeitungszentrum ab.“

 

Die Innovationsanlage im praktischen Betrieb

Bevor der Roboter mit dem Einbringen der Tieflochbohrungen beginnt, steht die exakte Kalibrierung des Umformwerkzeuges auf dem Programm. Dazu greift sich der TX200 einen 3D-Messtaster aus dem Werkzeugmagazin und vermisst die exakte Position des Presswerkzeugs. Nach dem offline-Abgleich mit den errechneten Bohrungspositionen erfolgt noch eine letzte Simulation aller Arbeitsschritte durch den Bediener, ehe die Bohrbearbeitung beginnt.

Pro Werkzeughälfte sind zwischen 70 und 80 Entlüftungsbohrungen erforderlich. Die Ausführung einer Tieflochbohrung setzt sich aus drei Phasen zusammen, dem sogenannten Anspiegeln, einer 30 mm tiefen Pilotbohrung sowie der abschließenden Tieflochbohrung mit Durchmessern von vier bis acht Millimetern. Die Besonderheit dabei: Der Linearvorschub bei dem Tieflochbohrprozess erfolgt durch den Roboter. „Das heißt, der Roboter setzt aktiv die bis

zu 120 Millimeter tiefen Entlüftungsbohrungen. Das setzt ein exzellentes Bahnverhalten und eine entsprechende Steifigkeit voraus, die nur der Stäubli Roboter mit seiner eigenentwickelten Antriebstechnik mitbringt“, so Juliane Kollecker.

Ein automatisches Werkzeugwechselsystem erlaubt es dem Roboter, sich mit allen benötigten Werkzeugen aus dem Werkzeugmagazin selbst zu versorgen. Selbst die komplette Bearbeitungsspindel kann der TX200 bei Bedarf gegen andere Endeffektoren an einer Wechselstation tauschen. Diese Lösung sorgt für ein Höchstmaß an Flexibilität und Automatisierung.

 

Durchgängig digitale Prozesskette

Weiterer entscheidender Vorteil: Die Positionen für die Entlüftungsbohrungen werden heute bereits bei der Werkzeugauslegung im CAD-System festgelegt und lassen sich ohne zusätzlichen Aufwand in das Offline-Programmiersystem des Roboterbearbeitungszentrum übernehmen. Die digitale Vernetzung trägt entscheidend zur Reduzierung der Durchlaufzeiten bei, wie Lisa Dilg, Projektleiterin seitens der Maschinentechnik, erklärt: „In der Vergangenheit mussten wir die Positionen für die Entlüftungsbohrungen vor Ort festlegen und mit den manuell zu bedienenden Bohrwerken einbringen. Mit dem digitalen Prozess entfällt dieser Aufwand komplett, so dass wir insgesamt eine Reduzierung der Durchlaufzeiten von rund 60 Prozent erreichen.“

Entsprechend positiv fällt das Resümee von Gereon Heidrich über die Innovationsanlage aus: „Das Roboterbearbeitungszentrum erfüllt unsere Erwartungen im Hinblick auf die Ausführung der Entlüftungsbohrungen in vollem Umfang. Die positiven Praxiserfahrungen mit dem Roboter stimmen uns zuversichtlich, auch die Integration weiterer Bearbeitungsprozesse in naher Zukunft realisieren zu können.“

Nach der Integration dieser Prozesse sind die noch vorhandenen Lücken im Hinblick auf die digitale Vernetzung aller Prozessschritte weitgehend geschlossen. Für das Kompetenzcenter rückt damit das übergeordnete Ziel der kompletten Simulation ganzer Prozessketten in greifbare Nähe. Vernetzte Systeme sollen künftig die adaptive Feinsteuerung der Kapazitäten und damit eine noch effizientere Produktion ermöglichen.