Autor: Matthias Barbian, Sprecher Industrie 4.0 im VDI Bayern Nordost / VDE Nordbayern

Gerade kleine und mittlere Unternehmen könnten neue interdisziplinäre Innovationsansätze wie ENGINEERING 2050 nutzen!

Deutschland ist der Erfinder von Industrie 4.0. Und Industrie 4.0 ist weltweit gefragt und wird gekauft, nur nicht von insbesonders kleinen produzierenden Unternehmen in Deutschland. Dabei besitzen gerade diese die Möglichkeiten zu einer schnellen Umset­zung, um weiter Teilnehmer eines globalen Marktes zu bleiben. Und wie sieht es mit der digitalen Infra­struktur in Deutschland aus? Wie wollen wir zukünf­tig Innovationen weiter vorantreiben, wenn die Schu­len sich in der digitalen Steinzeit befinden? Dieser Ar­tikel gibt eine kritische Übersicht zum digitalen Sta­tus in Deutschland und Impulse für den Weg zu digi­talen disruptiven Geschäftsmodellen.

Die deutsche Wirtschaft tätigt Investitionen zur Digitali­sierung in Asien. Der Siemens-Konzern hat beispiels­weise am 14. September 2017 beim Siemens Innovation Day China 2017 in Suzhou bekannt gegeben, ein globales Forschungszentrum für autonome Roboter in China an­zusiedeln und am 11. Juli 2017 wurde in Singapur ein Digitalisierungs-Hub eröffnet, um Innovationen für das Internet of Things (IoT) und Industrie 4.0 zu entwickeln. Deutsches Wissen über Roboter und Industrie 4.0 ist sehr gefragt, insbesondere in Asien. Das zeigt unter anderem das Beispiel der Kuka-Übernahme durch den chinesi­schen Technologiekonzern Midea im Jahr 2016. Während Industrie 4.0 – Made in Germany – in der Welt gefragt ist, findet die digitale Transformation bei kleinen und mittleren Unternehmen auf der Produktionsseite in Deutschland nur zögerlich oder gar nicht statt.

Das verarbeitende Gewerbe in Nordbayern hat in der überwiegenden Mehrheit (fast 70 Prozent) noch keine konkreten Schritte zur Umsetzung von Industrie 4.0 un­ternommen. Deutschlandweit sind es sogar 85 Prozent. Dieses ernüchternde Ergebnis ergab eine Befragung von Unternehmen der Industrie- und Handelskammern aus Bayreuth, Coburg, Nürnberg, Regensburg und Würz­burg-Schweinfurt vom Dezember 2016. Deutschland war zwar Vorreiter mit Industrie 4.0, aber in der Zwischenzeit sind weltweit viele ähnliche Industrie-Initiativen gefolgt (s. Abb. 1).

Abbildung 1: Industrie-Initiativen (G7, China)

Die gezeigte Auswahl der Industrie-Initiativen der G7-Staaten und China hat unterschiedliche Schwerpunkte. Das industrial internet CONSORTIUM wurde 2014 von amerikanischen Firmen wie beispielsweise General Electric, IBM und Intel gegründet. Ziel ist es, Ideen um das industrielle Internet voranzutreiben. Deutsche Fir­men wie Siemens, Bosch und SAP sind ebenfalls Mit­glieder. INDUSTRIE DU FUTUR wurde 2015 gegründet, um eine Modernisierung der bestehenden französischen In­dustrie sowie deren digitaler Transformation durchzufüh­ren. Im Gründungsjahr 2015 wurde auch eine Koopera­tion mit der Plattform Industrie 4.0 vereinbart. Mit High Value Manufacturing Catapult dokumentiert Großbritannien nach der Finanzkrise 2007, wie wichtig es ist, die eigene Produktion im Land zu unterstützen. Fabbrica Intelligente beschäftigt sich seit 2012 mit Visi­onen und  Strategien für die Zukunft des italienischen Maschinenbaus. Die japanische Robot Revolution Initiative, gegründet 2015, will als einen Schwerpunkt bestehende Roboter­konzepte um künstliche Intelligenz erweitern. Auch hier gibt es seit 2016 eine Zusammenarbeit mit der Plattform Industrie 4.0. 2015 hat China mit Made in China 2025 einen Fahrplan für die Modernisierung der chinesischen Industrie verab­schiedet. Industrie 4.0 – Made in Germany – findet trotz bestehen­der weltweiter Industrie-Initiativen hohe Beachtung. Deutschland ist immer noch sehr gefragt, nur nicht im ei­genen Land!

Für die deutsche mangelnde und mangelhafte digitale Infrastruktur herrscht noch hoher Nachholbedarf. Diese lässt zurzeit auch keine Umsetzung von Industrie 4.0-Ge­schäftsmodellen außerhalb einer bestehenden Produktion flächendeckend in Deutschland zu, insbesondere nicht in den ländlichen Gebieten. Ein zukunftsfähiger Breitband­ausbau ist aber die Basis für Industrie 4.0. Deshalb sollte dieser in Deutschland beschleunigt und vor allem struk­turiert vorgenommen werden, um langfristig tragfähige Innovationen für Industrie 4.0 (insbesondere für kleine Unternehmen und Ingenieurbüros „auf dem Land“) zu er­möglichen. Die Definition zu einem leistungsfähigen Breitbandaus­bau ist flexibel und hängt von den Anforderungen (hö­here Datenmengen, höhere Übertragungsgeschwindig­keiten) der Nutzer (Industrie, Mittelstand) ab. Sinnvoll erscheint hier 1 Gbit/s bis 2020! Der digitale Vorsprung (insbesondere für die digitale In­frastruktur) skandinavischer Länder und auch insbeson­dere von Estland ist enorm. Diese Länder sollten uns als Vorbilder für eine schnelle digitale Transformation die­nen.

Die Schulen lehren leider noch in der digitalen Steinzeit. Dies zeigt sich sowohl in der Ausstattung als auch in den Unterrichtsmethoden. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Lehrer keine oder kaum digitale Kompetenzen besitzen und der Informatik-Unterricht an den Schulen nicht umfassend oder überhaupt nicht umgesetzt wird. Die Digitalisierung in den Schulen muss vorangetrieben werden durch eine technische Ausstattung der Schulen mindestens dem Stand der Technik entsprechend, am besten darüber hinaus. Zukünftig kann dann auch ein gro­ßer Teil der Hausaufgaben digital bearbeitet werden. Di­gitale Lehrmaterialien sollten zukünftig Tablets, White­boards und interaktive Tafeln sein. Es sollte nur noch das ausgedruckt werden, was wirklich benötigt wird. Das sinnlose Büchertragen sollte beendet werden. Das schont die Umwelt (Nachhaltigkeit) und den Rücken (Gesund­heit)!

Die Wissenschaft bleibt zu akademisch, sucht immer noch nach der Definition für Industrie 4.0, während die Welt nach Industrie 4.0 verlangt, Industrie 4.0 weltweit verkauft wird und bereits von anderen Ländern (in wel­cher Ausprägung auch immer) angewandt wird. Eine noch stärkere praxisorientierte Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft wäre ebenfalls wünschens­wert.Der digitale europäische Binnenmarkt wird kommen. Hierfür muss Deutschland gerüstet sein. Zurzeit gibt es noch digitale Schlagbäume, die den Zugang zu Waren und Dienstleistungen verwehren. Aber bald werden In­ternetunternehmen und Start-ups ihren Aktionsradius er­weitern und die Vorteile der digitalen Technologien voll nutzen. Der EU-Binnenmarkt muss endlich fit für das di­gitale Zeitalter gemacht werden. Dadurch könnten lt. Eu­ropäischer Kommission jährlich 415 Milliarden Euro er­wirtschaftet und hunderttausende neue Arbeitsplätze ge­schaffen werden. Abb. 2 zeigt den damaligen EU-Kommissar für digitale Wirtschaft Günther Oettinger im Februar 2015 auf der Digital4EU in Brüssel, wie er für den digitalen europäischen Binnenmarkt wirbt.

 

 

 

 

 

Abbildung 2: EU-Kommissar für digitale Wirtschaft Günther Oettinger, Februar 2015 auf der Digital4EU in Brüssel

Der pragmatische Ansatz zur Digitalisierung / Umset­zung von Industrie 4.0 beginnt mit der Festlegung des zu­künftigen Industrie 4.0- bzw. Digitalisierungsgrades im Unternehmen. Ein Umsetzungsplan sollte erstellt und (in kleinen Schritten) abgearbeitet werden. Industrie 4.0 be­deutet nicht eine voll automatisierte Produktion zu haben, entscheidend ist der Aspekt neuer (disruptiver) Ge­schäftsmodelle. Diese können durch interdisziplinäre ko­operative Vernetzungen mit anderen Unternehmen in der Region, aber auch interregional geschaffen werden. Oft werden die Arbeitnehmer bei innovativen Prozessen zur Unternehmenserneuerung vernachlässigt und Unter­nehmensberater beauftragt. Hier muss ein Sinneswandel geschehen: die Innovationskraft der eigenen Arbeitneh­mer sollte genutzt werden! Ein innerbetriebliches Wis­sensmanagement und Vorschlagswesen sind dabei nur veraltete Vorgehensweisen. Neue interdisziplinäre Inno­vationsansätze wie ENGINEERING 2050 (s. Abb. 3) sind eher richtungsweisend.

 

ENGINEERING 2050 ist ein interdisziplinäres Projekt von VDI Bayern Nordost, VDE Nordbayern und der Zentrifuge (Kreativ-Cluster). Ziel ist es, die Produktion der Zukunft unter technischen, künstlerischen und gesell­schaftlichen Aspekten zu gestalten. Das geht weit über die jetzige Sichtweise von Industrie 4.0 hinaus. ENGINEERING 2050 hat durch seinen innovativen An­satz auch die Anerkennung bei der Europäischen Kom­mission in Brüssel bekommen. So schreibt Dr. Mark Nicklas, stellvertretender Referatsleiter Wachstumsori­entierte Innovationspolitik Europäische Kommission: „Wie sieht eine Fabrik im Jahr 2050 aus? In welchem Verhältnis werden Mensch und Maschine stehen? Diese Fragen können nicht mit neuen Technologien beantwor­tet werden. Vielmehr erfordert eine derartig komplexe und systematische Herausforderung den Einsatz von De­sign-Methoden. Der Austausch technischer, kreativer und künstlerischer Perspektiven kann hierzu einen wich­tigen Beitrag leisten.“ Der technologische Kern von ENGINEERING 2050 ist die Cloud der CEOs (Cyber Engineering Objects), die sogenannte CEO Plattform. Es beginnt mit dem Kundenwunsch nach dem individu­ellen Produkt. Dieser wird zukünftig mittels dem Brain Machine Interface an die CEO Plattform übertragen. Die dort abgelegten CEOs werden dann dazu genutzt, das En­gineering des Produktes, aber auch die notwendige Pro­duktion, die zukünftig weltweit verteilt sein wird, zu rea­lisieren. Das Controlling und Monitoring, insbesondere der Produktion, erfolgt ebenfalls aus der CEO Cloud.

Deutschland darf die Digitalisierung im eigenen Land nicht verschlafen! Deutschland muss innovativ bleiben und sich immer wieder neu erfinden! Industrie 4.0 ist hierfür der richtige Weg! Das zeigt aktuell die starke glo­bale Nachfrage. Industrie 4.0 darf aber nicht nur global verkauft werden, sondern sollte auch lokal genutzt wer­den, damit wir konkurrenzfähig bleiben. Die geschaffe­nen Freiräume im „Land der Denker“ sollten für die Ent­wicklung neuer Ideen und neuer (disruptiver) Geschäfts­modelle (s. ENGINEERING 2050) eingesetzt werden Natürlich müssen hierfür die Voraussetzungen geschaf­fen werden, für beispielsweise Bildung und digitaler In­frastruktur, und zwar noch schneller als bisher. Wir müs­sen Geschwindigkeit aufnehmen!

Die wirtschaftlichen digitalen Chancen sollten von den deutschen Unternehmen, insbesondere den Kleinen mit ihrer Innovationsfähigkeit und ihren Möglichkeiten zu ei­ner schnellen Umsetzung, genutzt werden! Wenn wir dies in Deutschland nicht tun, werden es an­dere Länder für uns tun!

 

KONTAKT:
Matthias Barbian
Sprecher Industrie 4.0 im VDI Bayern Nordost / VDE Nordbayern
matthias.barbian@barbian2050.com